Montag, 8. Oktober 2012

Pionier modernisierter kurdischer Volksmusik

Interview mit der Familie Dalshad Said, seiner Frau Erivan und Tochter Vaheen

Die Familie Said stammt aus Dohuk, wo Dalshads Großvater vor etwa 150 Jahren eine Moschee gebaut hatte. Dalshads Erinnerungen an diesen in der Stadt hoch angesehenen Textilhändler sind nur verschwommen, denn er war zwei Jahre alt, als der Vater seines Vaters starb. Der alte Mann war auch ein Mullah gewesen, der den Menschen in seiner bis heute erhaltenen Moschee Zuspruch und religiöse Orientierung gab, dies zu einer Zeit, als es in diesem – heute nord-irakischen – Kurdengebiet noch keine Schulen gab. Hochintelligent und sehr belesen, legte der Großvater großen Wert auf die Bildung seiner Kinder, die im Gegensatz zu ihm bereits die Chance auf einen Schulbesuch besaßen.

„Mein Vater“, erzählt Dalshad, „war sehr begabt in Mathematik, Gene, die er an seinen Sohn und Enkel – Dalshads Kind – weitergab. Aber er war auch ungewöhnlich sportlich und liebte Leichathletik“ und ließ sich gerne durch seine außergewöhnlichen Drehungen auf dem Reck in der Stadt bestaunen. „Mein Großvater wollte es ihm nachmachen, fiel vom Reck und war für den Rest seines Lebens behindert.“ In Dohuk wurde Dalshads Vater wegen seiner Sportlichkeit und seinem Mut als Held gefeiert. Sogar der damalige Bürgermeister suchte Hilfe bei ihm für seine Kinder, die der kräftige junge Mann in einer zu jener Zeit sehr unsicheren Gegend von der Schule nach Hause begleitete, um „den Weg von Feinden und Schlägern frei zu machen“. 

Die Liebe zu kurdischer Musik, die sein Leben bestimmen sollte, verdankt Dalshad zu einem beträchtlichen Teil seinem Vater, der selbst sehr musikalisch war, gut singen konnte und sein Wohnhaus mit Liebe in kurdische Musik tauchte. „Obwohl er sehr religiös war, hatte er grundsätzlich nichts gegen meinen starken Wunsch Musik zu studieren und kurdische Musik zu interpretieren. 1972, begann der damals 15-jährige Dalshad eine fünfjährige Ausbildung in der Bagdader Musikschule „Institute of Fine Arts“. Er war der beste unter den Schülern und hatte nur einen Wunsch, seine Ausbildung in Großbritannien oder Deutschland fort zu setzen. Mutig rief der junge Mann Saddam Hussein an, der damals schon als Vizepräsident beträchtlichen Einfluss besaß und dem Volk solche Möglichkeit des direkten Kontakts bot. „Er hörte meine Geschichte an und reagierte knapp: ‚Wir leiten es weiter.‘ Er hätte helfen können, aber ich bekam keine Antwort.“

Frage: Hat er nicht geholfen, weil Sie Kurde sind?

Dalshad: Nein, ich glaube nicht, dass das der Grund war. Denn von der Erfahrung meines Lebens in Bagdad, hatte ich nie das Gefühl als Kurde benachteiligt zu werden. Sie haben mich voll respektiert und die Leute nur nach ihren Fähigkeiten geschätzt. Ich habe in einem kurdischen Radiosender als Musiker gearbeitet und das irakische Nationalradio warb mich ab, nicht als normalen Geigenspiler im Orchester, sondern als stellvertretenden Dirigenten.“

Auch Erivan, Dalshads Frau, die in Bagdad gelebt hatte, stimmt zu: „Wir haben uns immer voll respektiert gefühlt. „Araber in unserer Umwelt“, ergänzt Dalshad, suchten immer herzlich den Kontakt zu uns. Alle Posten waren für mich – und auch für andere – (zu jener Zeit) offen“, vorausgesetzt man enthielt sich völlig der Politik oder wollte keine Karriere in der Verwaltung machen.
Doch in Kurdistan erlitten die Kurden starken Druck durch das Bagdader Regime. Dalshad erinnert sich, wie er als Junge seinem Vater in einem kleinen Lebensmittelladen geholfen und große Probleme mit den irakischen Sicherheitsleuten bekommen hatte, die ihm vorwarfen, er hätte Peshmergas mit Nahrung versorgt. „Ich war damals 15 und hatte extreme Angst, als mir die Sicherheitsleute mit Gefängnis drohten.“

Frage: Was haben junge Kurden wie Sie damals über Mulla Mustafa Barzani gedacht?
Dalshad: ER war mein Traumheld, Ich wollte ihn immer einmal sehen. 90 Prozent der Kurden sehnten sich damals nach Unabhängigkeit. Dieser Patriotismus damals war extrem. viel stärker ausgeprägt als heute.

Da er nicht zu einem Studium ins Ausland gehen konnte, unterrichtete Dalshad nach Abschluss des Musikinstituts in Bagdad zwei Jahre lang in Dohuk. In Bagdad hatte er sich als Violinist bereits einen Namen gemacht und so wurde er aufgefordert, an einem von der herrschenden Baath-Partei organisierten nationalen Musikwettbewerb teilzunehmen. Dalshad stimmte unter der Bedingung zu, dass er und seine Gruppe kurdische Kleidung tragen und kurdische Lieder singen. Nach zähen Verhandlungen wurde diese ungewöhnliche Forderung genehmigt und die Gruppe , bestehend aus einem 30-köpfigen Chor und 20 Orchestermitgliedern gewann den ersten Preis. „Das war eine gute Etappe, in der kurdische Kultur zurückkehrte“, freut sich Dalshad nicht ohne Stolz. Denn bis dahin waren nur arabische Lieder oder Musikstücke im Irak verbreitet. Wettbewerbe und erste Preise folgten.
Nun begann Dalshad mit der Interpretation und Modernisierung kurdischer Volkslieder. Er leistete damit Pionierarbeit und schuf die Basis für die Gründung eines eigenen Orchesters. Er wurde sehr populär, nicht nur im Irak, sondern in der ganzen Umgebung. „Wir präsentierten sehr oft in Bagdad unsere kurdischen Lieder in kurdischer Kleidung. Da gab es keinerlei Druck. Den Druck gab es damals nur in Kurdistan.“

„Saddam und seine Leute“, fährt Dalshad fort, „mochten unsere Gruppe sehr und verfolgten genau was wir machten.“ Als er sich eines Tage weigerte, ein eigenes Lied für den Geburtstag des Diktators zu komponieren, geriet der junge Musiker in große Schwierigkeiten. Er ließ sich aber nicht von Drohungen durch Baath-Funktionäre, auch nicht durch Vermittlungsversuche Wohlmeinender davon abbringen, dass er seine Kunst nicht zur Verherrlichung des die Kurden unterdrückenden Herrschers missbrauchen lassen wollte. „Sie wollten mich sogar töten - wegen eines Liedes!“ Die Prinzipientreue dieses begabten Musikers siegte schließlich und Dalshad durfte weiterhin sein Orchester führen, „sogar mit besserem Gehalt. Und ich komponierte das Lied nicht“.

Einige Zeit später begann sich das Drama zu wiederholen. Wieder wurde Dalshad aufgefordert, ein Lied für Saddam zu schreiben und man gab ihm dafür nur einen Tag Zeit. „Wie hätte ich das können? So entschied er sich unter seinem bestehenden Repertoire eines zu wählen. Es war gewagt, denn der Titel lautete: „Ich bin Tochter des kurdischen Volkes“. Eine Gruppe von kurdischen Sängerinnen zog mit diesem Titel nach Tikrit und präsentierte es dem Diktator zum Geburtstag. Es war ein voller Erfolg. Das Lied wurde im ganzen Land so berühmt, dass Saddam Dalshad, den Komponisten, eines Tages zu sich rief. Er wolle dem jungen, unterdessen so populär gewordenen Musiker einen Wunsch erfüllen, gab sich der Despot spendabel. Und so ging Dalshads langjähriger Traum in Erfüllung: ein Studium in England. Damit begann für den ehrgeizigen Musiker erneut eine mehrjährige intensive Ausbildung, die er mit dem Master of Arts abschloss.

Dalshad musste in den Irak zurück und man versprach ihm erneut ein Stipendium, um sein Studium mit einem Doktorat zu krönen. Es war 1991 und die Zeichen standen wieder auf Krieg. Die irakische Armee überfiel Kuwait, monatelange Besetzung und schließlich ein blutiger, von einer internationalen Allianz geführter Krieg zur Befreiung des südlichen Nachbarn zerstörte Dalshads Träume.

Der junge Mann hatte unterdessen seine langjährige Liebe, Erivan, geheiratet, eine entfernte Verwandte, Tochter eines Gerichtsinspektors aus Kovinshak, einer Kleinstadt in der Nähe von Erbil. Erivan und Dalshad hatten schon eine dreijährige Tochter und einen zwei Monate alten Sohn, als die erneute Katastrophe über sie und alle Bewohner Kurdistans hereinbrach: Mehr als zwei Millionen Menschen flüchteten im Frühjahr 1991 vor Saddams Aggressionen, in panischer Angst vor erneuten Giftgasattacken in die Berge, die meisten in die Türkei. Unter ihnen auch die Saids. Es fehlte an Essen, an Kleidung in der bitteren Kälte, Angst und Pein quälte sie. „Mehrmals glaubte ich, meine Kinder seien von den Strapazen und Entbehrungen gestorben“, erinnert sich Dalshad. Seine Bildung half ihm, sich und seiner Familie eine Zukunft zu sichern. Er arbeitete als Übersetzer für die österreichische Botschaft und erhielt schließlich Visa für Österreich. Hier sind die Saids unterdessen voll integriert, ein drittes Kind, ein Bub, kam in Linz zur Welt und Dalshad verdingt sich seinen Lebensunterhalt als Musiklehrer. Jede freie Minute investiert er in seine Leidenschaft: die Interpretation und Neugestaltung kurdischer Musik.

Interessiert verfolgt Vaheen die Erzählungen ihrer Eltern, die der in Österreich Aufgewachsenen voll vertraut sind. Die 23-Jährige ist „glücklich“ in Österreich. „Ich kann mir kein schöneres Land vorstellen“. Sie fühlt sich zu Österreich zugehörig, zugleich aber auch zu ihrer kurdischen Kultur „total hingezogen“. Sie lebt, sagt sie, „beide Kulturen“, nimmt sich von jeder „was ich für richtig empfinde, von der Kurdischen zum Beispiel die Gastfreundschaft, von der österreichischen die Offenheit“. Und dennoch, obwohl sie seit langem fast nur österreichische Freunde und ein offenes, herzliches Wesen hat, bekam auch Vaheen immer und immer wieder Ausländerfeindlichkeit und Vorurteile zu spüren. „Viele Menschen hier haben solche Klischees: du bist Muslim, das heißt du musst ein Kopftuch tragen, Extremist sein, darfst keine Ausbildung haben. „ Es empört sie zutiefst, wenn sich wiederholt Menschen überrascht zeigen, dass all diese Klischees auf sie nicht zutreffen. „ich glaube an Gott, ,eine Eltern glauben an Gott und wir sind trotzdem keine Extremisten. Wir sind trotzdem in Österreich integriert.“

Obwohl sich Vaheen an die dramatischen Ereignisse der Flucht aus Kurdistan nicht erinnern kann, ist sie überzeugt davon, dass sie bis heute an einem Trauma leidet. „Ich glaube, diese Erlebnisse sind ein Grund, warum ich so viel weine und von Versagensängsten gequält werde.“ Nur die Mutter gibt ihr die nötige Kraft und Sicherheit. So nimmt die Jusstudentin ihre Mama, die sich dabei gar nicht so wohl fühlt, sogar zu Prüfungen an die Universität mit, wo Erivan neben der 23-Jährigen sitzt und ihr damit die Zuversicht gibt, ihre Prüfung zu bestehen. Ihre Ausbildung will Vaheen schließlich dafür nützen, um anderen bei der Integration in der neuen Heimat zu helfen.

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