Mittwoch, 31. Oktober 2012

Erinnerungen an die Großmutter in Syrien

Die Serie der Interviews, die wir im Rahmen des EU-Grundtvig-Projekts "Geschichten meiner (Groß)Eltern" im Laufe der vergangenen zwei Jahre geführt hatten, zeigen Nachwirkungen auf die junge, in Europa aufgewachsene Generation. So inspirierten sie etwa eine in Deutschland geborene Studentin, deren Familie väterlicherseits der kurdischen Minderheit in Syrien angehört, die Erinnerungen an ihre Kindheitsbegegnungen mit Verwandten und insbesondere der Großmutter in Syrien wieder zu erwecken und nieder zu schreiben. Ronya Othmann verfaßte ein Gedicht: ""Distanzen der Nacht" und einen Prosatext: "Schlangen".



"Distanzen der Nacht"


  Schlangen


Du musst Schafwolle bereithalten, wenn die Schlangen kommen, dann musst du dir sicher sein, dass du Schafwolle hast, diese musst du dann verbrennen mit Kräutern, um die Schlangen zu vertreiben. Das hatte mein Vater in seiner kurdischen Kindheit von der Mutter gelernt. Dinge dieser Art, das wusste sie waren wichtig, man muss sie nicht nur lernen, man muss sie in den Ohren haben, im Kopf, in den Händen und vor allem im Blut. Es war etwas wie die Zwiebeln, die man sich auf die Ohren legte, wenn sie schmerzten, oder zu wissen, wie die Beschaffenheit des Brotteigs sein musste, dass es an der Ofenwand klebte und nicht in die Glut fiel. Woher meine Großmutter wiederum dieses rätselhafte Rezept hatte, wusste ich nicht. Vermutlich ist so archaisch wie vieles in dem Dorf in Syrien, indem meine Großmutter lebte. Diesen Ratschlag, was ich zu tun hatte, wenn die Schlangen kamen, gab mein Vater an mich weiter und ich musste mich in Zukunft schlecht fühlen, weil ich vergessen hatte welche Kräuter man zu Schafswolle dazu geben musste. Getrocknet sollten sie sein. Es waren vor allem exotische, fremdländische Kräuter; vielleicht war es aber auch nur ein fremder Name für etwas Läppisches wie Schnittlauch, Petersilie oder Kresse, was überall wuchs. Tatsache ist, ich wusste es nicht mehr. Aber ich hatte nicht vergessen, dass es Schafwolle war. Ich klammerte mich an seine kratzigen, groben Fasern. Jawohl Schafswolle! Damit vertreibt man die Schlange, die den Geruch nicht leiden kann.

Schafswolle brennt nicht besonders gut, es ist kompliziert sie zu entflammen.

Ich mache mir Sorgen und Vorwürfe; ich hätte besser zu hören sollen, es erschien mir nicht so wichtig. In Deutschland war es nicht von Nöten Schlangen zu vertreiben, in den mitteleuropäischen Breiten hatte man keine giftigen Schlangen zu fürchten. Deutschlands Natur war für Spaziergänger gemacht, für Familien mit Kindern, Rentner und den Sonntagnachmittag. Vor allem blieb sie dort wo sie war, vor der Haustür, vor der Stadt. Aber trotzdem. Man durfte die Schlangen nicht unterschätzen, gesichtslose, körperlose Wesen, lautlos heranschleichend, unberechenbar, listig, kaum auffällig, geräuschlos, mehr dämonisch, als animalisch. Ich habe nie das Tier in ihnen gefunden. Das schlimmste ist, dass man sie nicht einschätzen kann, sie knurren nicht wie Hunde oder Katzen, bevor sie angreifen. Ihre Bewegungen wirken unwirklich und schattenhaft. Ich fürchte mich vor ihnen.
Ich hätte es mir besser einprägen, mir das Rezept irgendwo notieren sollen.
Ich weiß nicht mehr genau wie man Schlangen vertreibt. Warum ich nicht besser zugehört hatte.
Es würde irgendwann von Nutzen sein, das Rezept, könnte mir mein Leben retten.
Schafwolle. Ruppiges Geflecht. Ich besitze nichts aus Schafswolle. Ich hatte einmal eine Mütze für die kalten Winter, sie hat gekratzt. Ich konnte sie nie länger als eine halbe Stunde tragen. Ich habe sie im Schnee vergraben. Schafwolle. Zumindest Schafwolle sollte ich haben. Woher bekomme ich Schafwolle. Ich könnte aufs Land fahren, mich in eine große Halle schleichen, Massentierhaltung, ich würde einbrechen müssen, mit einem Beutel und eine Schere, würde ich die Schafe scheren, ein kleines bisschen, es würde nicht auffallen. Wenn die Schlangen dann zu mir in die Straße, hoch die Treppen in die Wohnung im fünften Stock kommen, dann würde ich in meiner Wohnungstür eine Schale aufstellen, würde die Wolle hinein geben, würde sie verbrennen. Ich hätte auch fragen sollen, welchen Anzünder ich verwenden darf. Und ob Spiritus, zum Beispiel, die Wirkung aufhebt, oder gar die Schlangen anlockt.
Meine Großmutter hatte eine Metallschale, sie hat geräuchert, damit die
Schlangen gingen, damit der Rauch in ihrer Nase biss und es brannte in den Augen. Die Großmutter war eine furchtlose Frau, klein und schmächtig, man hätte ihr es nicht zu getraut, dass sie so derart furchtlos war, aber sie stand tief in der Erde wie ein dürrer, knochiger, alter Baum; ihr Holz ist mit den Jahren zäh geworden. Sie wartete auf die Schlange bis sie aus dem Versteck, einmal war sie in der Vorratshütte, kam, redete auf sie ein, bis die Schlange davonschlich, das Weitete suchte. Sie hatte sprach ruhig und höflich, respektvoll mit einer Schlange. Ich würde mich darin üben müssen keine Angst vor dem Wesen zu haben. Ich hatte riesige Angst. Wenn die Schlangen kämen würde ich schreien. Vor allem fühlte ich mich schutzlos, weil ich nur noch die Hälfte der Rezeptur in Erinnerung hatte. Und ich wusste nicht, ob das reichte, um die Schlangen zu vertreiben.

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