Sonntag, 22. April 2012

„Die Beziehungen von Müttern und Töchtern im Kontext von Migration und Integration“ - Ergebnis des Grundtvig-Workshops


Kurdische Frauen in der neuen Heimat


„Die Beziehungen von Müttern und Töchtern im Kontext von Migration und Integration“ standen im Mittelpunkt eines sechstägige vom EU-Grundtvig-Programm unterstützten und vom Institut für Kurdologie in Österreich organisierten Workshops. Das Thema zog Teilnehmer aus sieben europäischen Ländern (Deutschland, Dänemark, Schweden, Niederlande, Frankreich, Schweiz, Polen) und Österreich in die Räumlichkeiten der „Kurdischen Bibliothek Casme Calil“ im niederösterreichischen Eichgraben.
Die Veranstaltung war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Selten kommen kurdische Migranten aus so vielen europäischen Ländern zusammen, um sich sechs Tage lang gemeinsam mit einer ihr Leben in Europa tief berührenden Thematik auseinander zu setzen, unterschiedliche Erfahrungen auszutauschen. Wiewohl die Töchter in der Überzahl waren, konnten zwei junge Kurdinnen aus Deutschland ihre Mütter zur Teilnehme überreden und fanden auch einige kurdische Männer die Auseinandersetzung mit dieser Thematik, Fragen des Patriarchats und der Rolle der Männer in der Migration interessant genug, um nach Eichgraben zu reisen.

Im Laufe der Diskussionen entwickelte sich eine ungewöhnlich herzliche und offene, ja freundschaftliche Atmosphäre, eine Harmonie zwischen den Teilnehmern, die so manche ermutigte, auch ihren Emotionen freien Lauf zu lassen und ungeniert Tränen zu vergießen, in der Gewissheit eines tiefen Verständnisses durch die anderen. Die kurdische Psychologin Mag. Özlem Akar ermutigte die Teilnehmer, über ihre bitteren Erfahrungen offen zu sprechen, auch wenn Tränen die Worte erstickten, denn das Gespräch sei der wichtigste Heilungsprozess für die Kurden (wie für alle) die als Volk so schwer traumatisiert worden seien.

Ein Ergebnis der Diskussionen ist die Erkenntnis vor allem unter Nicht-Migranten, welch schwere Bürde selbst junge, in Europa geborene Menschen mit Migrationshintergrund – und hier insbesondere kurdischem – zu tragen haben Die Traumen, die die Eltern durch Krieg, Verfolgung und Flucht, aber auch durch Probleme bei der Integration zu erleiden hatten, verschonten selbst die unterdessen vollends integrierten Kinder nicht. Eine in der Geborgenheit eines europäischen Landes geborene und aufgewachsene Teilnehmerin erzählte eindrucksvoll, wie sie sich selbst durch die Leidenserfahrungen, die ihr Verwandte aus der Heimat erzählt hatten, traumatisiert fühlt. Das Verständnis für dieses schwere Erbe ist ein wesentlicher Faktor für ein harmonisches Zusammenleben in europäischen Ländern. Einer der Teilnehmer, der Psychologe Prof. Dr. Ilhan Kizilhan, weist darauf hin, dass es im Leben von Migranten keine Trennung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gebe. „Wer die Vergangenheit auslöschen will, hat keine Zukunft.“

Die Teilnehmer, deren Familien alle aus verschiedenen Teilen Kurdistans stammen, schilderten zu Beginn ihre Migrations- und Integrationserfahrungen, einige studieren noch, andere haben Schulen, Hochschulstudien abgeschlossen und eine Berufslaufbahn begonnen, alle Altersgruppen waren repräsentiert, von 20 bis über 70. Prof. Dr. Jalile Jalil, Obmann des Instituts für Kurdologie und Historiker, widmete sich in einem kurzen Vortrag vor allem der Beziehung zwischen Müttern und Töchtern, den traditionellen Problemen von Frauen in der kurdischen Gesellschaft, im Spiegelbild der kurdischen Oralkultur. So befassen sich alte kurdische Volkslieder etwa gerne mit Entführungen von Mädchen, erzählen von der Sehnsucht junger, verliebter Kurdinnen, die ihren Geliebten anflehen, er möge sie doch mit sich von zu Hause fortnehmen, damit die Eltern sie nicht mehr zwingen könnten, einen ihr fremden Mann zu heiraten.

Andere Beispiele, die die kurdische Volksliteratur gerne aufgreift, sind Zweitehen. Die kurdische Tradition kennt Scheidungen oder Trennung des Mannes von der Ehefrau kaum. Hingegen gibt es immer wieder Fälle, in der Oralliteratur wiedergegeben, in denen etwa eine kranke oder altgewordene Ehefrau für ihren noch kräftigen Mann eine junge Frau sucht, die seine Bedürfnisse befriedigt, während sie selbst als tolerante Erstfrau hohe Achtung in der Familie und auch durch ihren Ehemann genießt. Erstmals wurde während des Workshops ein alter, berühmter Film, „Zare“, gezeigt, der Gewalt gegen Frauen in einem kurdischen Dorf in Armenien zum Inhalt hat. Der Film war 1926 von Armeniern gedreht worden und Prof. Jalile präsentierte ihn erstmals in Kurdisch. Seine Ausführungen und der Film lieferten Anreize für eine rege Diskussion, in der die Teilnehmer auch andere Beispiele zum Thema des Workshops aus der kurdischen Volkskultur darlegten.

Besondere Aufmerksamkeit zog Ilhan Kizilhan, Professor für Gesundheitswissenschaften und Psychologie, sowie Leiter der Arbeitsgruppe Migration an der Universität Freiburg in Deutschland, durch seine Präsentation mehrerer Forschungsergebnisse zum Thema Migration und dem Leben in mehreren Kulturen an. So erläuterte er etwa das Ergebnis einer Umfrage, nach der in Deutschland 71 Prozent der befragten Migranten Erfahrungen mit ungleicher Behandlung zwischen Deutschen und Ausländern machten – eine Entwicklung, die wohl weitgehend auch in anderen Ländern verzeichnet werden dürfte; knapp 50 Prozent der kurdischen Migranten fühlen sich von türkischstämmigen Immigranten diskriminiert. Nach einer anderen Studie berichten 49 Prozent von Frauen in kurdischen Gebieten über häusliche Gewalt. In Europa liegt die erschreckende Zahl immerhin noch bei 30 Prozent.

Das Thema Angst vor allem der älteren Generation, ihre kulturellen Werte, ihre Identität in der Migration zu verlieren, gab Anstoß zu engagierten Diskussionen. Dabei wiesen Teilnehmer darauf hin, dass die Eltern, insbesondere die Mütter, die von Natur aus Beschützer der Kinder, der Töchter sind, in der Migration oft massiven Druck auf die Töchter ausüben, weil sie – so einer der Teilnehmer – „die kulturellen Werte ihrer Gesellschaft, die sie in die Migration mit-transferieren, oft höher werten als die Interessen des Individuums“. Es sind vor allem die Mädchen, die unter einer häufig zu erkennenden „Opfermentalität“ der älteren Generation, vor allem der Mütter, zu leiden haben, die häufig die Töchter den Interessen der Gemeinschaft opfern. Diese Tendenz ist umso stärker, je geringer die Bildung der Eltern/Mütter ist. Anderseits, darauf wurde in den Diskussionen aufmerksam gemacht, gibt es durchaus Fälle kurdischer Frauen, die in der Migration einen Umdenkungsprozess durchgemacht haben. So erzählte eine der Teilnehmerinnen von der Begegnung mit einer kurdischen Mutter, die ihr stolz verkündete: „Niemals lasse ich meine Tochter beschneiden (eine katastrophale Praxis, die auch in Deutschland immer wieder im Geheimen durchgeführt wird), „es ist mir völlig egal, was der Vater sagt“.

Der Kampf gegen Beschneidungen von Mädchen, darin waren sich die Teilnehmer einig, ist ein äußerst heikler Prozeß. Man müsse den Eltern Alternativen für eine traditionelle und äußerst gefährliche Praxis anbieten, die nach ihrem Verständnis den Eintritt des Mädchens ins Erwachsenenalter signalisiert und der „Sauberkeit“ dient. Aufklärungsversuche müßten aber unter allen Umständen vermeiden, Mütter zu beleidigen oder zu demütigen, da man damit riskiere, dass sie die traditionelle Position noch verhärte. In dem Zusammenhang erscheint der Hinweis bemerkenswert, dass immer wieder gerade auch aus der Türkei ganze Dorfgemeinschaften in ein europäisches Land immigrieren und auch dort ihre alten Gemeinschaften weiter aufrecht erhalten. Für die heimische Bevölkerung, für Betreuer oder gegebenenfalls auch für die Justiz entstehen damit mitunter enorme Verständnisprobleme. Denn die Migrantenfamilien nahmen ihre gegenseitigen Konflikte, die oft auch historische Wurzeln haben, in die neue Heimat mit und belasten damit mitunter ihr friedliches Zusammenleben. Außenstehenden fehlt dann meist das Hintergrundwissen, um die Probleme zu begreifen und bei Konfliktlösungen zu helfen.

Auch Themen wie „Zwangsehe“ und „Ehrenmord“, eine brutale archaische Praxis, die nach Überzeugung Prof. Kizilhans in nächster Zeit in Deutschland gar noch zunehmen werde, wurden eingehend behandelt.

Die Sozialanthropologin Dr. Marianne Six erläuterte die Familienstrukturen von Migranten, die sich im Aufnahmeland weit rascher verändern als in der Heimat, so etwa ein fortschreitender Individualisierungsprozeß, der in dieser Form im Herkunftsland kaum möglich wäre, sowie eine Veränderung der Identitätsstrukturen, veränderte Vorstellungen von Respekt und Autorität, die an den Grundfesten des Patriarchats rütteln. Dabei sprachen Teilnehmer die Vermutung aus, dass männliche Migranten häufiger unter Depressionen litten und größere Schwierigkeiten hätten, sich in der neuen Umwelt zurecht zu finden, während die Mütter ihre traditionelle Rolle als Trägerinnen der Kultur gerade in der neuen Umgebung des Aufnahmelandes häufig energisch übernehmen. Teilnehmer verwiesen auf eine Studie, die die Frage erhellt, warum sich Männer in einer neuen Umwelt oder in einer neuen Lebenssituation oft weit schlechter zurecht finden als Frauen. Für die Frauen verändert sich ihre Hauptfunktion – Schutz der Kinder – auch in veränderten Situationen nicht. Eine Studie, die in der kurdischen Stadt Van unter Familien durchgeführt wurde, die gewaltsam vom türkischen Militär aus ihren Häusern vertrieben worden waren, ergab, dass in den meisten Fällen die Männer in Depression und Hilflosigkeit verfielen, weil sie nichts zu tun hatten, während sich die Frauen, wie stets um Essen, Haushalt und Kinder kümmerten, damit zentralen Aufgaben nachkamen und Depressionen so keinen Nährboden fanden.

Eine teilnehmende Studentin aus Deutschland berichtete über Erfahrungen im Umgang mit jungen kurdischen Kollegen und Freunden, die sich häufig treffen und in freundschaftlicher, offener Atmosphäre über alles diskutieren könnten. Sie teilten Vergnügungen und Freuden, ebenso wie Fehlschläge und Trauer. Doch ein Tabu bleibe unverändert, unüberwindbar. Wenn es um die Frage der Heirat gehe teilt plötzlich die Mauer der Religion die junge Gemeinschaft, Diskussionen erlahmen. „Plötzlich“, so der eindrucksvolle und emotionale Bericht, „sind wir Sunniten, Alawiten oder Yeziden“ , die nur untereinander heiraten dürften. „Warum sind wir nicht in erster Linie Kurden und in zweiter Linie Angehörige einer bestimmten Religionsgemeinschaft“, klagt die junge Frau, die als Sunnitin in Deutschland in einer überwiegend yezidischen Gemeinschaft lebt. Sie ist überzeugt, dass die Nähe, die sie – abgesehen von der Frage der Heirat – als Sunnitin zu den Yeziden gewonnen hat, nur möglich war, weil die sunnitische Gemeinschaft in diesem Gebiet klein ist und keinen massiven Druck auf ihre Glaubensbrüder auszuüben vermochte, sich von den „anderen“ zu distanzieren. Doch es sind auch die Yeziden, die sich oft derart von kurdischen Muslimen distanzieren, dass sie sogar ihre kurdische Identität aufgeben und das Yezidische als eigene Ethnizität darstellen. Hier lastet ein blutiges Erbe der Vergangenheit – Brutalitäten, Verfolgungen yezidischer Kurden in der Türkei durch muslimische Kurden – bis heute schwer auf den Beziehungen zwischen Angehörigen beider Religionsgemeinschaften, ein Erbe, das oft auch die Kinder tragen und das die Aufnahmegesellschaft aus Mangel an Hintergrundwissen nicht versteht . Ein Versöhnungsprozeß durch Dialog auch in der Migration ist dringend geboten, darin sind sich alle einig.

Grundsätzlich wurde angemerkt: Die junge Generation sehnt sich zwar nach Offenheit, nach Überwindung von Barrieren, aber kann dem Druck ihrer Gemeinschaft, der Eltern meist – noch – nicht widerstehen. Eine der teilnehmenden Mütter fand eindrucksvolle Worte zur Darstellung ihrer Position. Religion, betonte die 48-jährige Frau, die ihre Haare unter einem „islamisch“ gebundenen Kopftuch versteckt, halte sie für einzig eine Frage zwischen sich und Gott. Doch der Druck, den sie ganz allgemein auf ihre Tochter ausübe entspringt tiefer „Angst vor der Fremde“. Die Frauen in der (kurdischen) Heimat, in ihren Dörfern seien weit liberaler und weit aktiver als in der Migration. Sie spielen eine zentrale Rolle im Produktionsprozeß wie bei der Gestaltung und Organisation der Familie. Doch in der für sie neuen europäischen Umwelt quält sie „die Angst die Kinder zu verlieren“, erklärt die Mutter von fünf Kindern. Diese kämen zu unterschiedlichen Zeiten nach Hause. „Ich sehe sie nur am Abend und zum Wochenende. Sie sind den ganzen Tag draußen und ich habe Angst, weil ich nicht weiß, was sie tun, und nicht an ihrem Leben teilnehmen kann.“ Diese Situation, die sich so krass vom Leben in der Heimat unterscheidet, setzt vielen Müttern in der Migration so schwer zu, dass sie dem Freiheitsdurst vor allem der Töchter sehr häufig enge Grenzen zu setzen versuchen. Es ist die Angst vor Gefahr, die Väter oft nicht in diesem Maße empfinden und deshalb – wenn es nicht um Fragen der „Ehre“ in erzkonservativen Familien geht – liberaler gegenüber ihren Töchtern sind als Mütter. Zugleich aber bleibt die Rolle der Frau und Mutter nicht nur als Trägerinnen der Tradition, sondern auch als Stabilitätsfaktor in der Familie, als Vermittlerinnen in Konflikten unbestritten, ein Faktum, das sich häufig durch das Auseinanderfallen von Familien etwa im Fall des Todes der Mutter belegen läßt.

Alle Teilnehmer stimmten aber zu, dass die ältere Generation, die Gemeinschaft insgesamt in der Heimat einen Veränderungs- und Liberalisierungsprozess durchgemacht hat, der in der Fremde aus Angst vor unbekannten Gefahren und Sorge um den Verlust der Identität nicht nachvollzogen wurde.

Es waren Tage intensiver Diskussionen, in denen die Teilnehmer Freunde wurden, gemeinsam emotional aufgewühlt den starken Wunsch zeigten, weiterhin in regem Kontakt zu bleiben, sich auszutauschen und wieder zusammen zu kommen, um einander erneut in dem schwierigen Prozess der Anpassung an ein Leben in der Fremde zu helfen.

3 Kommentare:

  1. Herzlichen Dank an alle Workshopteilnehmer, vielen Dank auch an der Institut für Kurdologie Wien für sechs wunderbare und schöne Tagen. Ich habe so viel gelernt und nehme ganz viele positive Eindrücke mit nach Schweden.
    Liebe Grüsse, Miriam.

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  2. So ein Ergebnis war nur durch die Veilfalt möglich. Es waren alle Altersgruppen, alle Teile von Kurdistan und alle Religionen vorhanden. Die Auswahl der Teilnehmer müsste wirklich sehr schwer und mühsam gewesen sein aber das Resultat war perfekt. Sonst hätte man so ein volles Programm bis zu sechs Tagen nicht durchziehen können. Ich würde noch am Text ein Korrektur vorschlagen, der Film heißt auf kurdischen "Zere" und hier ist "Zara" geschrieben, der original Begriff ist gleichzeitig ein Name und das sollte vielleicht nicht geändert werden.

    Ich bedanke mich ebenfalls beim Institut Mitarbeiter und drücke Mamoste Jalile Jalil gaaaaaaaaanz fest:-)

    Liebe Grüße
    Sevda und ihre Mutter

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  3. Besten Dank an Mamoste Celîlê Celîl, Xanim Birgit Cerha sowie an alle Organisatoren und Mitarbeiter des Worshops für die hervorragende Organisation, erfolgreiche Auswahl der Referenten und Teilnehmer und für die anspruchsvolle Themen, die aufgrud der freundlichen und familiären Atmosphäre offen diskutiert worden sind, denn familiärer geht es wirklich nicht mehr. Was mich besonders gefreut und motiviert hat, jeden Tag an dem Workshop teilzunehmen, war die Auswahl der Teilnehmer aus unterschiedlichen EU-Ländern, sodass man die Gelegenheit gehabt hat, unterschiedliche Erfahrungen auszutauschen. ich habe viel gelernt und viel mitgenommen...

    Auf ein baldiges Wiedersehen
    Hanaa Ebrahem aus Deutschland

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